Viel ist die Rede von disruptiven Systemen, von geändertem Kundenverhalten, von Digitalisierung und wie Konzerne auf diese Herausforderungen reagieren sollten. Oft werden neue Abteilungen eingepflanzt, neue Arbeitsmodelle zur abteilungsübergreifenden Collaboration ausgerufen oder gar ganze Change Management Projekte ins Leben gerufen. Und dies manchmal parallel zu bestehenden Costcutting-Maßnahmen die notwendig geworden waren, weil viel zu spät auf all die Herausforderungen reagiert wurde.
An den eigentlichen Problemen wird damit aber wenig geändert. Denn gäbe es eine ehrliche Analyse der eigenen Schwächen, würden viele der im B2C-Bereich tätigen Unternehmen feststellen, dass über Jahre hinweg Produkte und Services an den Kundenbedürfnissen vorbei entwickelt wurden. Und dass genau dort neue, junge Entrepreneure punkten.
Startups verstehen die Bedürfnisse der Kunden übrigens oft besser, weil sie aus der betroffenen Zielgruppe kommen. Und weil sie ein hohes persönliches Interesse daran haben, ein einzelnes, ganz spezifisches Problem, das sie als betroffene Kunden selbst erlebten, zu lösen. Strategisch schieben sie sich damit zwischen Produkt und User, indem sie Oberflächen (Surfaces) bieten, die intuitiv und rasch bedienbar sind und das Bedürfnis des Kunden in seiner jeweiligen Lebenssituation erfüllen können. Die Rahmenbedingungen, unter denen ein Produkt gedeihen kann, sind dabei sekundär, das Startup wird von keiner Compliance-Abteilung, von keinem Verkaufsleiter, von keiner Corporate Identity und von keiner Konzernmutter reglementiert – natürlich bestätigen Ausnahmen hier die Regel.
Ein Beispiel aus der Finanzbranche
umber26 bot lange Zeit ausschließlich eine App zur Kontoführung an, ohne eine Banklizenz zu besitzen und ohne Geld dafür zu verlangen. Was bedeutete, dass man sich als Anbieter auf das Interface für den Kunden konzentrierte und das aufwändige, dahinterliegende Bankgeschäft Partnern überließ. Die App ist intuitiv zu bedienen, bietet einen Überblick über die persönlichen Finanzen, die Anmeldung erfolgt von zu Hause aus via Videoauthentifizierung und Callcenter. Für die neuen Kunden bedeutet das maximale Bequemlichkeit und die Erfüllung ihres Bedürfnisses „Bankkonto einrichten“ just in time, ohne in eine Bankfiliale gehen zu müssen oder gar auf einen Termin zu warten. Und anstatt x Euro im Monat bei x Überweisungen an Kontoführungsgebühr einzuheben, gibt es ein klares, transparentes Bezahlmodell: Das Konto ist gratis. Warum etablierte Banken diesen so wichtigen Teil des User Interfaces vernachlässigen und damit die Türe für neue Player am Markt öffnen? Weil User Experience nicht als so wichtig angesehen wird, als dass man dafür fächerübergreifend das Sales-Modell, die Kommunikation, die Call-Center-Prozesse und die IT anpassen würde.
Wie können Konzerne wieder lernen (geänderte) Kundenbedürfnisse zu erkennen? Wie kann die User Experience wieder ins Zentrum der Servicemodelle gerückt werden?
Beobachtung der User
Willkommen im 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert in dem Kunden im Zuge ihres Konsumverhaltens Spuren dick wie Autobahnen hinterlassen – in Form von Daten und Customer Journeys. Wie viele Unternehmen nutzen diese Möglichkeiten bereits, um Kunden besser zu verstehen? In wie vielen Unternehmen gibt es bereits direkte Feedbackschleifen von Online Analytics in das Call Center oder in die Produktentwicklungsabteilung? In wie vielen Unternehmen ist Social Service nicht nur ein Schlagwort, sondern bereits in den Channels umgesetzt und individuell erlebbar? Wer sitzt im Unternehmen auf diesen Daten und wie viel Budget wird bereitgestellt, um den Schatz zu heben und für das gesamte Unternehmen nutzbar zu machen?
Lerne von den Besten
Da Startups zwar Userbedürfnisse und Service-Design verstehen, aber oft noch unbekannt sind oder auch gravierende Mängel in anderen Business-Bereichen wettmachen müssen, sind sie in der Regel an einem Austausch von Knowhow mit etablierten Unternehmen interessiert.
Entwickler-Konferenzen, Hackathons und Barcamps sind eine hervorragende Möglichkeit, die Communities der verschiedensten Welten mit den handelnden Mitarbeitern zusammenzuführen. Der Fehler der dabei oft gemacht wird: Die Konferenz wird mit großem Aufwand und hoher interner Awareness auf die Beine gestellt, bleibt aber ein einmaliges Ereignis, weil sich im Unternehmen niemand findet, der permanent Kontakt hält und damit laufend Knowhow schöpft. Knowhow, das vielleicht nicht gleich innerhalb der aktuellen Vorstandsperiode monetarisiert werden kann.
Das gute alte Mystery-Shopping
Der Vorteil von jungen Unternehmen, die auf den Markt drängen und dabei erfolgreich sind ist, dass sie das nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit tun. Was hindert Manager daran, das Service der Konkurrenz in Anspruch zu nehmen um herauszufinden, was diese besser macht? Was hindert eine Marktforschungs- oder Entwicklungsabteilung daran, ihr Radar auszufahren und nicht nur etablierte, bekannte MitbewerberInnen sondern aufkommende Unternehmen und deren Produkte zu analysieren? Die VertreterInnen etablierter Unternehmen bei Startup-Stammtischen lassen sich seit Jahren an einer Hand abzählen.
Einsatz von Personas
Marketing- und Kommunikationsabteilungen haben i. d. Regel für irgendeines ihrer Projekte bereits Personas und Customer Journeys entwickelt, um lebhafte Bilder von potentiellen Usern vor Augen zu haben, bevor sie ihre Kommunikationskanäle optimieren. Natürlich sollten diese Personas allen Abteilungen und MitarbeiterInnen des Unternehmens zur Verfügung stehen, insbesondere sollten sie mit der Produktentwicklungsabteilung abgestimmt sein. Die gemeinsamen Personas vor Augen lässt sich leicht die Serviceleistung des Unternehmens anhand von realen Customer Journeys diskutieren.
Profis einsetzen
Die Beschäftigung externer, professioneller UX-Agenturen hat mehrere Vorteile:
- Sie kennen die Branche und haben durch die verschiedensten Kundenprojekte einen guten Überblick über das was funktioniert und was nicht.
- Sie kennen agile Methoden um gemeinsam mit den Mitarbeitenden des Unternehmens Ideen zu generieren und zur Umsetzung zu führen, Stichwort Design Thinking. Und sie sind geübt in deren Anwendung.
- Sie bringen immer die Außen- und damit auch die Anwendersicht ein, ohne sich an den Strukturen der Konzerne oder den Schwierigkeiten der Realisierung zu orientieren.
- Sie müssen nicht den Ansprüchen aller konzerninternen Stakeholder genügen, sondern nur jenen der beauftragenden Abteilung.
- Während interne KonzernmitarbeiterInnen darauf geschult sind, eigene Schwächen im Service mangels Fehlerkultur nach oben hin zu relativieren, ist für externen Consultants eine Stärken-/Schwächenanalyse der User-Interfaces die Basis für ein erfolgreiches Kundenprojekt. Wie ungeschminkt oder strategisch gekonnt man mit den Ergebnissen umgeht, steht auf einem anderen Blatt.
Wichtig ist, dass Unternehmen ihren Mitarbeitenden wieder Raum, Zeit und Ressourcen anbieten, sich in die KundInnen hineinzuversetzen. Und dass Führungskräfte ihren MitarbeiterInnen signalisieren, dass es erwünscht ist, sich neben der Verrichtung des Alltagsgeschäftes mit der Interaktion der User mit Touch Points auseinanderzusetzen. Das bedeutet, dass auch Vorstände und die Geschäftsführung das Kundenbedürfnis und die User Experience in den Fokus rücken müssen.